Aberglaube und Gebräuche bei Sterbefällen

Karl Hofe, Erwin Rickert, Christel Behncke, Ulrich Droldner

Gehört das Thema, dem wir uns auf den folgenden Seiten widmen wollen, nun in den Bereich Arbeit und Alltag, oder zum Themenkomplex Sitten und Gebräuche?

Wir waren uns nicht sicher, haben uns aber für letzteres entschieden, weil wir hier auf Verhaltensregeln treffen, die allgemein gültig wurden, wenn ein Leben zu Ende gegangen war. Dorflehrer Hofe hat sie uns überliefert und Hauptlehrer Rickert hat den Text in die uns vertraute lateinische Ausgangsschrift übertragen.

Einen Anstoß zu dem Thema liefert uns Christel Behncke im Anschluss an ihre Schilderung zu dem Feuersturm von 1974:

„Das ist der Katen, das Altenteil vom Dohrendorf‘schen Hof, der abgebrannt ist. Und da habe ich eine Erinnerung als Kind. Wir sind 1956 auf den Hof, haben meine Eltern den Hof gekauft, unseren. Und ich weiß, 1957 muss das gewesen sein, da wohnte eine Familie in dem alten Katen bei Dohrendorfs. Das war Familie T., er hieß Gustav, wie sie hieß, weiß ich nicht mehr. Und Gustav T. muss 1957, schätze ich, verstorben sein. Und das fand ich… das hat so’n Rieseneindruck hinterlassen bei mir. Wie er dann tot war, da kam dann ein Pferdegespann. Es war ein Leiterwagen, der war an den Seiten mit schwarzen Tüchern bespannt und da kam der Sarg drauf und ich weiß, dann sind die zu Fuß nach Nusse hinter dem Pferdegespann mit dem Sarg hinterher gegangen. Die ganzen Leute waren alle in schwarz, wie sich das damals früher gehörte.“

Altenteilkaten des Dohrendorf' Hofs vor dem Feuer. Quelle: Martin Schübel.
Altenteilkaten des Dohrendorf' Hofs vor dem Feuer. Quelle: Martin Schübel.
Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.
Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.

Dem Sterbenden legt man ein Gesangbuch unter das Kopfkissen, dadurch erleichtert man ihm das Sterben. Nach erfolgtem Ableben öffnet man die Fenster, um die Seele hinauszulassen. Vorher hat man eine Schale Wasser unter das Bett gestellt, um der Seele Gelegenheit zu einem Bade zu geben. Den Spiegel nimmt man herunter, denn die Seele darf sich nicht spiegeln. Die Totenfrau „legt den Toten an“. Gesicht, Hals und Hände werden gewaschen. Der benutzte Waschlappen wird in den Sarg zu Füßen des Toten gelegt, ebenso der Kamm, mit dem man den Verstorbenen gekämmt hat. Das Waschwasser wird dorthin gegossen, wo niemand hinkommt, die Waschschüssel wird zerschlagen.

Der Tote erhält ein weißes Kleid an, das mit selbstgenähten Rosen besetzt ist. Sorgsam achtet man darauf, daß keine Träne auf den Toten fällt, sonst findet er keine Ruhe im Grabe.

Die Bretter zu dem Sarg werden schon zu Lebzeiten gesägt und auf dem Boden aufbewahrt. Der Tischler nimmt nicht mit seinem Zollstock Maß, sondern mit einem geschnittenen Stock, den man nachher in den Sarg legt. Der Sarg wird mit Kienruß geschwärzt und mit Speckschwarten blank gerieben.

Nicht gerne begegnet man einem Leichenzug, weil es dann bald einen Toten in der Familie gibt. Überhaupt weiß man aus mancherlei Anzeichen, auf die man mit Angst und Sorge achtet, daß es bald einen Toten gibt. Wenn das Käuzchen oder Leichenhuhn beim Hause sein „Kumm mit“ oder „Kleed witt“ erschallen läßt, wenn der Hund die ganze Nacht bellt und mit der Kette rasselt, wenn die Pferde bei einem Hause auffällig scheuen und nicht ...

Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.
Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.

vorüber wollen (als wenn sie etwas Schlimmes ahnen), wenn im März ein Kohlweißling einem zuerst den Frühlingsgruß seiner Sippschaft bringt, so weiß man, daß man dort und dort bald einen Toten beklagen wird. Auch in den Erscheinungen der Pflanzenwelt kann ein Kundiger mancherlei beobachten, was ihn Not und Tod vorauswissen lehrt. Es bedeutet immer Trauer im Hause, wenn jemand eine Pflanze findet, die ihre natürliche Farbe in weiß, die Farbe des Totenkleides, verwandelt hat. Der Grünkohl mit weißen Blättern, das weiße Vergißmeinnicht, die weißblühende Heide, ein weißes Veilchen: sie alle künden Trauer. Und wenn es der stillen Myrthe vorm niedrigen Fenster einfällt, sich mit Blüten zu schmücken, so weist auch diese Erscheinung auf einen Toten hin.

Ebenso achten die Sorglichen auf allerlei Zufälle des täglichen Lebens. Es droht der Tod, wenn der Braut beim Besteigen des Hochzeitswagens der Schleier zerreißt, wenn die Uhr auf 12 stillsteht, wenn eine Fotografie oder ein Spiegel herunterfällt, wenn die Tür knarrt oder gar von selber aufspringt, wenn sonderbare Geräusche die Stille der Nacht unterbrechen: das Knarren der Lade (Truhe), die das Totenhemd birgt, das Klirren der Tassen im Eckschrank. Natürlich wird darauf geachtet, daß nicht Dreizehn zu Tisch sitzen. Hat es sich aus Gleichgültigkeit oder Eile aber doch so gefügt, so droht Unheil dem, der unter der Uhr oder dem Spiegel gegenüber sitzt. Der alte Tischler weiß es auch schon vorher, daß er jemandem sein letztes Haus zimmern muß, hat es sich doch in seiner Werkstatt „gerührt“. Träumt man von einem alten Toten, so hört man bald von einem neuen. (Anm. E. Rickert: „Ik heff vun … [meistens ein verstorbener Bekannter oder Verwandter] dröhmt, wer nu wol wedder starft“,* kann man noch heute 1997 hören). In den Zwölften darf man nicht waschen …

Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.
Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.

und keine Wäsche draußen aufhängen. „Wer vun Wiehnachten bet Niejohr denn Tuhn kleed, dei kleed vun Ostern bet Pingsten `ne Liek.“** Stirbt gerade in den Zwölften jemand im Dorfe, so folgen in dem Jahre noch zwölf Tote nach.

Sobald die Leiche „eingelegt“ ist, stellt man den Sarg auf die große Diele. Man achtet darauf, ob die Augen des Verstorbenen sich noch wieder öffnen. Geschieht das, so sieht der Tote sich nach einem Verwandten um, der ihm bald ins Grab folgen soll. Bleibt der Mund offen stehen, so hat er damit schon den nächsten Toten bestimmt. Die Leiche ist so aufgebahrt, daß sie zur großen Tür hinschaut. Kommt nun ein Fremder, der ohne Kenntnis des Trauerfalls ist, in die große Tür hinein, so kann er sich auf den Tod „verschrecken“. Um solch Unglück zu verhüten, wird der Sarg am Fußende mit einem Laken verhängt, das an zwei Stühlen befestigt ist. Auf dem Deckel stehen die Totenkerzen. Wird am Begräbnistage der Sarg von guten Nachbarn hinausgetragen, so stoßen die Träger die Schemel um auf denen der Sarg ruhte, weil sie sonst bald wieder einen Sarg tragen müssen. Ist der Sarg draußen, so muß die Tür sofort geschlossen werden. Man darf sie auch nicht früher wieder öffnen, bevor der Tote in der Erde ist. Es darf ja kein Kranz , der für den Toten als letzter Liebesbeweis gespendet worden ist, im Hause liegen bleiben, sonst kommt bald wieder Trauer in dies Haus. Auf dem Totenwagen (Leiter- oder Kastenwagen) ruht der Sarg auf Strohbündeln. Das Stroh darf nicht wieder zum Streuen benutzt werden, es könnte Unglück in die Ställe bringen. Bei der Flurgrenze wirft man die Bündel in den Graben; dort schadet es niemandem. So tut man hierzulande noch heute. Kutscher, Totenfrau oder wer sonst …

Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.
Karl Hofe - Aberglauben und Gebräuche bei Sterbefällen (Originaldokument). Quelle: Chronik Kühsen. Autor: Erwin Rickert.

wegen Alter und Gebrechlichkeit auf dem Totenwagen sitzt, dürfen sich nicht umsehen. Der Leichenwagen darf nicht vor dem Trauerhause umwenden; auch ist darauf zu achten, daß seine Achsen nicht quietschen. All diese Umstände bedeuten wieder einen baldigen Todesfall. Muß der Leichenwagen unterwegs aus irgend einem Anlaß halten, oder fallen Kränze vom Sarg, so stirbt einer aus dem Gefolge. Begegnet dem Leichenzug zuerst ein Mann, so stirbt als Nächster eine Frau und umgekehrt. Man soll nicht eine Fohlenstute vor den Leichenwagen spannen, sonst muß das Fohlen bald dran glauben. Der Sarg darf nicht rückwärts vom Wagen gehoben werden, man soll ihn vielmehr seitwärts über die Leitern heben. Drauf wird er einmal um die Kirche getragen. Ruht sich jemand auf der Totenbahre aus, so kommt er selber bald darauf zu liegen. Beim Verlassen des Friedhofes darf man sich nicht nach dem Grabe umsehen. Solange auf dem Friedhof ein Grab offen steht, darf kein Kind getauft werden. Steht ein Grab in der Neujahrsnacht offen, so sterben im folgenden Jahre viele Leute im Kirchspiel. Sind zu gleicher Zeit zwei Todesfälle in der Kirchengemeinde, so folgt die dritte Leiche bald nach. Nach der Beerdigung gehen die Träger, Verwandten und Bekannten zurück ins Trauerhaus, wo sie bewirtet werden. Es gibt üblicherweise Milchreis mit Zucker, dicken Reis mit Streuzucker, Mehlklöße mit süßsaurer Soße, Klöße mit Pflaumen- oder Korinthensoße. Häufig wird aber noch ein bißchen anders gefeiert. Es findet sich nach und nach eine Gesellschaft in der Gastwirtschaft zusammen, und nun beginnt das herkömmliche „Fellversupen***“. Die Trauerkleidung wird vor Ablauf des Trauerjahres abgelegt.

* Ich habe von … geträumt, wer nun wohl wieder stirbt.
** Wer von Weihnachten bis Neujahr den Zaun kleidet, der kleidet von Ostern bis Pfingsten eine Leiche.
*** Das Fell versaufen

Diese Aufzeichnungen stammen von Lehrer Hofe, Volksschule Kühsen. Die „Übersetzung“ aus der Deutschen Schrift (Sütterlin), die von Lehrer Hofe geschrieben wurde, in unsere heutige lateinische Ausgangsschrift erfolgte 1997 von Konrektor E. Rickert, Lehrer in Kühsen und Groß Grönau. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von U. Droldner, Kühsen 2024. Rechtschreibung und Satzbau folgen dem Originaltext.